Zum Advent

SCHUTZENGEL

Nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Seit gestern schneit es.

Dicke Flocken fallen pausenlos vom Himmel und lassen die Stadt wie unter einer dicken Zuckerdecke erscheinen.

Die Weihnachtsbeleuchtung in den Strassen, die hastig eilenden Menschen in der üblichen, vorweihnachtlichen Hektik

und dazu dieser dichte Schneefall, der lautlos die Welt umhüllt – eine eigenartige Gleichzeitigkeit von Geschäftigkeit und Stille. Diese Gegensätze fallen mir heute besonders auf.

 

Grad eben, auf der Heimfahrt, hörte ich im Autoradio ein Gespräch: "Gedanken zum Advent". Jemand sprach über Gott,

darüber, dass die göttliche Barmherzigkeit jetzt in diesen Tagen, besonders deutlich wahrnehmbar sei.

Der Sprecher forderte seine Zuhörer auf, Fragen an Gott zu stellen und er versprach:

Sie werden Antworten erhalten, wenn Sie rein und ernsthaft danach verlangen".

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, doch, mich an die schwierigen Monate, die hinter mir liegen, erinnernd,

sagte leise vor mich hin: "Ich könnte ja fragen: "Wo warst Du?".... "Wo warst Du, als ich weinte? –

wo warst Du, als Dunkelheit herrschte? – Wo warst Du, als ich keinen Weg sah? – Wo warst Du?". .... "

Schluss", sagte ich laut zu mir. "Lassen wir das!"

 

Im Moment habe ich für jede Art von Weihnachtsstimmung einfach keinen Sinn.

Ich habe nur noch einen Wunsch: Nach Hause, allein sein, mit niemandem sprechen – einfach nur Ruhe.

 

Grad dabei, die Haustüre zu öffnen, bemerke ich das kleine Mädchen auf der Eingangstreppe.

Ganz in die hinterste Ecke gedrückt, sitzt es da. Ganz traurig, ganz klein. V

erborgen in seinen Händen hält es etwas, fest an sich gepresst. Es ist ein Bild von tiefem Kummer, das sich mir bietet.

Vergessen ist mein Bedürfnis nach Ruhe – Spontan setze ich mich zu dem Kind.Ich spreche nicht,

denn die grossen Augen, in denen keine Träne zu sehen ist, lassen jede Frage nach dem Grund der Trauer banal erscheinen.

 

Die ersten Worte dringen leise an mein Ohr: "Die anderen im Kindergarten haben recht, es gibt gar kein Christkind".

Die Kleine streckt mir Ihre beiden Hände entgegen.

In der einen hält sie einen wunderschönen Engel aus Glas, der betend die Hände zusammenführt.

Ein ausgebreiteter Flügel vermittelt den Eindruck von Schutz und Geborgenheit.

Den zweiten Flügel hält das Mädchen in der anderen Hand.

"Es gibt kein Christkind". ... "Das ist mein Schutzengel. Meine Oma hat ihn mir geschenkt, dass er mich beschützt.

Nun ist sein Flügel abgebrochen und ich habe das Christkind gebeten, ihn wieder heil zu machen, aber es hat mir nicht geholfen. Nun weiss ich, dass es gar kein Christkind gibt!"

 

Ich nehme das Kind in meine Arme. Still lässt es die Nähe zu und lehnt den Kopf an meine Schulter.

Was kann ich zu diesem stillen Schmerz sagen?

Können Worte und erwachsene Argumente dieses Herzeleid einer ersten Lebens-Enttäuschung mildern?

Wortlos sitzen wir eng beisammen und betrachten den Engel mit einem Flügel.

Ich nehme den abgebrochenen, anderen, Flügel in meine Hand und halte ihn etwas in die Höhe.

Gegenüber steht ein Weihnachtsbaum. Das Licht der Kerzen fällt etwas in unsere Ecke.

Dieser schwache Schimmer zaubert einen winzigen Lichtpunkt in das Glas des Flügels.

Ich bewege meine Hand etwas und das Licht wandert mit.

Nun bricht es sich in der Kante des aufgefächerten Flügels und wirft Strahlen in alle Richtungen.

Eine kleine Bewegung meiner Finger und das Licht erhellt formlos und matt schimmernd den ganzen Flügel. ....

 

Dieses spielerische Schauen durch den gläsernen Flügel hat nur wenige Augenblicke gedauert,

aber in der Zeit hat sich das Mädchen aufgerichtet und interessiert beobachtet, was mit ihrem Flügel geschah.

Vorsichtig stellt die Kleine nun ihren Schutzengel neben sich auf die Treppe und nimmt mir den Flügel wieder aus der Hand.

Mit dem geschliffenen Stück Glas versucht sie nun die Lichter der Kerzen einzufangen.

Sie führt die Hand nach oben und nach unten, dreht den Flügel, nimmt ihn nahe an ihre Augen und streckt den Arm weit aus.

Mit jeder Bewegung zeigen sich neue Formen und andere Farbschattierungen in diesem kleinen Engelsflügel.

 

"Vielleicht gibt es das Christkind doch", flüstert das Mädchen leise – mehr zu sich, als zu mir.

Vielleicht sitzt es neben mir und behält einen Flügel, damit es fliegen kann.

Den anderen Flügel schenkt es mir, damit ich immer daran denke, dass es bei mir ist.

Die Kleine hält mir den abgebrochenen Flügel vor das Gesicht. "Schau, wie schön er ist!

Schau, es ist wie eine Sonne und wie Sterne gleichzeitig."

"Ich glaube, wenn ich durch diesen Flügel schaue, ist mein Schutzengel ganz nahe bei mir.

Wenn ich traurig bin, muss ich nur das Licht im Flügel suchen".

Vorsichtig legt die Kleine den Flügel beiseite, dann umarmt sie mich mit der ganzen Innbrunst eines fünfjährigen Kindes

und strahlt mich mit ihren bezaubernden Augen an. Nahe an meinem Ohr flüsters sie "Danke!".

Dann nimmt sie den Engel und den abgebrochenen Flügel vorsichtig auf.

Mit einem verschmitzten Lächeln winkt sie mir mit dem kleinen Flügel zu

und schon verschwindet sie im dichten Schneetreiben des vorweihnachtlichen Abends.

 

Still bleibe ich auf der Steintreppe sitzen. Ich spüre keine Kälte. Mein Herz ist weit offen ....

Ein längst vergessenes Staunen erfüllt mich. "Was ist das?" "Was war das eben?" "Diese Begegnung mit dem kleinen Mädchen?".

 

Meine erwachsene Realität verschwimmt und löst sich allmählich in einem Gefühl auf, das ich so noch nie erlebte.

Mir ist, als würden Türen nach Türen sich öffnen, die mir den Blick in eine Welt freigeben, die ich nicht kenne.

Ich sehe – nein, ich ahne mehr – Zusammenhänge des Lebens, die mir bis heute verborgen waren, von denen ich nichts ahnte.

 

Mit einemmal verstehe ich: Alles hängt zusammen, alles hat seinen Sinn.

Mein Leben, das Leben der anderen Menschen, irgendwie greift alles ineinander.

Bedarf es tatsächlich nur eines geschliffenen Glases, um hinter das Geheimnis des Lebens zu sehen.

Existiert mein Schutzengel? Gibt es doch das Christkind?....

In diesem Moment glaube ich daran – kindlich und wissender, als noch vor einer Stunde.

 

Etwas drängt in mein Bewusstsein. Es sind Worte, in mir aufsteigend, geflüstert, nur für mich zu hören::

"Wo warst Du? – Ich habe Dich gesucht, doch Du hast mich nicht gefunden!

Ich habe Dich gerufen, doch Du hast mich nicht gehört!

Ich habe Dich berührt, doch Du hast mich nicht gefühlt. Ich habe Dich getragen, doch Du bemerktest es nicht!"

"Danke", flüstere ich leise vor mich hin. Ich habe Weihnachten erlebt.

Susy Heim

 

 

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